Zitate

"Meine eigene Lektüre war nicht originell: Ich las viel, doch ungefähr dasselbe wie andere Kinder auch, nur eben erheblich früher. Am stärksten sind in meinem Gedächtnis geblieben: der Dickens-Roman 'Oliver Twist' und Defoes 'Robinson Crusoe', beide Bücher wohl in den üblichen Bearbeitungen für die 'reifere Jugend'",
schreibt Marcel Reich-Ranicki in: Mein Leben, gross.druck, München 2002

Robinson Crusoe war in seiner Zeit und auch heute nicht nur ein viel gelesenes, sondern auch viel diskutiertes Buch. Viele Schriftsteller haben in ihren Werken darauf verwiesen. Sie konnten davon ausgehen, dass ihre Leser es kennen und dass die bloße Nennung des Namens Robinson reicht, um die Vorstellungen des Lebens auf einer einsamen Insel auszulösen

J. W. Goethe:

«Robinson Crusoe hat den Kindern unglaubliche Dienste geleistet; es ist ihr Entzücken und ihr Evangelium.»

So heißt es in Fried Stern "Der Robinson in Reim und Bildern":

Was du geschrieben, bleibt stets neu;
Dein Robinson ist wie der Mai
So frisch, so klar und wird es bleiben,
Und sollt`s die welt noch toller treiben.
Was kann ich über dich noch sagen!
Die ganze Jugend müßt ich fragen.
Dies sei dein allerschönster Lohn:
In jedem Bub lebt Robinson.

Und Herrmann Hesse wird zugeschrieben:

"Defoe, der mit seinem Robinson eines der gelungensten und schönsten Bücher der Welt geschrieben hat, ist ein unglaublich produktiver und lebendiger Mensch gewesen."

Franz Kafka:

Hätte Robinson den höchsten oder richtiger den sichtbarsten Punkt der Insel niemals verlassen, aus Trotz oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehnsucht, so wäre er bald zugrunde gegangen; da er aber ohne Rücksicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde in einer allerdings dem Verstand notwendigen Konsequenz schließlich doch gefunden.

Nun folgend Zitate aus Büchern, die sich auf den Roman von Defoe beziehen.

Das Urheber-Recht ist damit nicht verletzt. Diese Zitate sind frei.

 

Clemens Brentano:
Aus "Römer an Godwi"

Sie kömmt mit dem Herzen, ihr Geist, der richtig und ruhig sieht, sieht, daß man es nicht aushalten kann; aber, weil er wenig sieht, sieht er nicht, daß man es wohl aushalten kann, wenn man sie einhalten kann.
Von den Stürmen der andern verschlagen, lege ich mich oft vor dieser friedlichen, ruhigen Insel vor Anker, und der kleine Anker von Jaspis, der an ihrem Halse hängt, mit seinen sanft wogenden, tiefen, stillen Gründen, hat sich oft so mit meinen Tauen verstrickt, daß ich kappen mußte, um weg zu kommen.
In solchen Verlegenheiten kam mir oft unvermuthet ein Gedanke so originell, einsam und wunderbar frei, wie ein Robinson aus der stillen Insel entgegen, und half mir großmüthig selbst fortkommen.
Ein Hauptzug in ihrem Charakter ist, daß sie sich nie mit andern Weibern geheime Bagatellen in die Ohren flüstert; sie ist offen und geheim im Ganzen, so daß man nur eins von beiden von ihr sagen könnte. –
Es läßt sich gut von ihr und mit ihr sprechen, sie tödtet keinen Begriff, faßt jeden mit Liebe, und giebt ihm einen zarten Gesellschafter, sie macht das Gespräch glücklich.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/brentano/godwi/godwi25.htm

 

Eichendorf:
Aus "Ahnung und Gegenwart" (Zehntes Kapitel)

... Die alte, gleichförmige Ordnung der Lebensweise kehrte nun wieder auf dem Schlosse zurück. Die beiden Gäste hatten auf vieles Bitten noch einige Zeit zugeben müssen und lebten jeder auf seine Weise fort. Friedrich dichtete wieder fleißig im Garten oder in dem daranstoßenden angenehmen Wäldchen. Meist war dabei irgend ein Buch aus der Bibliothek des Herrn v. A., wie es ihm gerade in die Hände fiel, sein Begleiter. Seine Seele war dort so ungestört und heiter, daß er die gewöhnlichsten Romane mit jener Andacht und Frischheit der Phantasie ergriff, mit welcher wir in unserer Kindheit solche Sachen lesen. Wer denkt nicht mit Vergnügen daran zurück, wie ihm zumute war, als er den ersten Robinson oder Ritterroman las, aus dem ihn das früheste, lüsterne Vorgefühl, die wunderbare Ahnung des ganzen, künftigen Lebens anwehte; wie zauberisch da alles aussah und jeder Buchstab auf dem Papiere lebendig wurde? Wenn ihm dann nach vielen Jahren ein solches Buch wieder in die Hand kommt, sucht er begierig die alte Freude wieder auf darin, aber der frische, kindische Glanz, der damals das Buch und die ganze Erde überschien, ist verschwunden, die Gestalten, mit denen er so innig vertraut war, sind unterdes fremd und anders geworden, und sehen ihn an wie ein schlechter Holzstich, daß er weinen und lachen möchte zugleich. Mit so muntern, malerischen Kindesaugen durchflog denn auch Friedrich diese Bücher. Wenn er dazwischen dann vom Blatte aufsah, glänzte von allen Seiten der schöne Kreis der Landschaft in die Geschichten hinein, die Figuren, wie der Wind durch die Blätter des Buches rauschte, erhoben sich vor ihm in der grenzenlosen, grünen Stille und traten lebendig in die schimmernde Ferne hinaus; und so war eigentlich kein Buch so schlecht erfunden, daß er es nicht erquickt und belehrt aus der Hand gelegt hätte. Und das sind die rechten Leser, die mit und über dem Buche dichten. Denn kein Dichter gibt einen fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer, zu träge und unlustig, nicht den Mut verspürt, die goldenen, losen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheimnisvolle Buchstab ewig tot, und er täte besser, zu graben oder zu pflügen, als so mit unnützem Lesen müßig zu gehn. ...

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/eichndrf/ahnung/ahnu10.htm

 

Hanno Erdwein:
Aus "Per Aspera ad Astra"

Essensdunst kroch mir gleich hinter dem Windfang penetrant in den Riecher. Brrr! Irgendein Kohlgemüse wurde da aufgewärmt. Hinten im Gang der typische klinisch-saubere Laugengeruch. Wurde immer noch Schmierseife verwendet? Klassenräume einen Stock höher. Ausgetretene Steintreppe. Geländer von vielen Händen speckig glänzend. Hinter der Pendeltür unverkennbar Vaters Stimme. Diktat. Dazu rhythmisch die Punktschriftmaschinen mit hämmerndem Stakkato. Der Flur bebte davon. Tür auf und ein Guten-Tag. "Setz dich Junge und hör zu." Ich ärgerlich: "Komm nachher noch mal wieder." Draußen war ich. Mein Erzeuger jetzt wütend hinter mir drein gebrüllt: "Du bleibst!" . Mich juckte das wenig. Hock mich doch da nicht eine geschlagene Stunde hin und hör mir den Quatsch an! Vater diktierte zum soundsovielten Mal aus Robinson Crusoe. Konnte den ollen Defoe bereits mitsingen. Kaum ein Ferienaufenthalt bei Verwandten auf dem Land, wo Vater mir den nicht vorgelesen hatte. Nein, das nun wirklich nicht! Ziellos strich ich durch Gänge. Weiter treppauf. Weitere Gänge. Wo hauste dieser Schorsch? Georg Knauf. Mit dem hatte ich vor Wochen im "Knobelbecher" Bier getrunken. Paar Jahre älter als ich. Zwar Heiminsasse, dennoch kein übler Kumpel. Wo war der nur zu finden? Schlich an sterilweißen Türen vorbei. Erinnerte nicht nur durch den Geruch an Krankenhaus. Ah! Rockmusik powerte hinter einer Tür. Öffnete sie vorsichtig. Jawohl. Da fläzte sich Schorsch auf dem Bett und in Griffweite rotierte eine schwarze Scheibe auf dem Plattenteller. "He Kumpel!" Georg drehte den Kopf und lauschte in meine Richtung. "Hans?!", fragte er erstaunt. "Bin zufällig hier und wollte mal reinschaun." Er jumpte vom Bett und angelte nach einem Stuhl. "Setz dich. Stört die Musik?" "Laß ruhig laufen. Roy Obison ist schon ok." War zwar gelogen, weil ich Härteres diesem Softy vorzog. Aber ich wollte den Kumpel nicht kränken. Seine Hand suchte den Knopf und drehte leiser. "MANN! Stark, daß DU MICH MAL BESUCHST! Ich denk, du verträgst so´n Heimklima nicht." "Für ein Stündchen schon", grinste ich. Jetzt stand er auf, ging zum Schrank und kam mit Flasche und Gläsern zurück ans Bett. "Magst du Cola? Leider nicht aus dem Kühlschrank." Ich nahm ein Glas und schluckte tapfer das pißwarme Zeug. Und er erzählte mir von dem, was er hier trieb. War in der Lehre. Bürstenmacher. Staubiger Beruf. Ging ganz schön auf die Knochen. "Fühl mal den Bizeps!" Ich drückte anerkennend die Schwellung auf seinem Arm. "Und das machen auch Frauen?" "Klar Mann. Die sind uns sogar über. Schaffen so´n Bürstenstück in kürzester Zeit." "Mann", staunte ich, "dann müssen die Tanten aber Muckies haben." "Worauf du dich verlassen kannst. Hab mal versucht, eine aus unserer Werkstatt anzubaggern. Hatte so ein süßes Stimmchen. Aber deren Handschrift auf meiner Backe war nicht ohne." Die Tür ging auf und es tappte jemand herein. Georg kannte den Schritt. "He Bruno. Das ist Hans. Hab dir von ihm erzählt." Bruno war einer der drei, die hier wohnten. Dreibettzimmer, genau wie im Krankenhaus. Schorschs Kamerad kam und drückte mir die Hand. "Auch Bürstenmacher?", erkundigte ich mich. Bruno grinste: "Zum Glück gibt es auch noch was anderes. Ich bin bei denen, die Matten herstellen, damit ihr euch die Füße abtreten könnt. Und Karl, der gerade die Tür reinkommt, ist Korbflechter." Ein langer, klapperdürrer Alter schleppte sich just durch die Tür. Noch so ein staubiger Bruder. "Was bin ich, du Lauser?! Korbflechter! Wie sich das anhört! Mein Gewerbe heißt immer noch Korbmacher. Merk dir das." Und nun entspann sich ein zwar humorvolles aber ansonsten langweiliges Hickhack über die Vorzüge der drei Handwerks-Gattungen. Unterbrochen wurde dieser Disput erst, als eine vierte Gestalt ohne anzuklopfen hereinstolperte. Schorsch knurrte: "Ach du Scheiße! Da kommt Ludwig. Jetzt kannst du was verspannen." Ich besah mir diesen Ludwig. Der strebte zielgerade auf Georgs Bett zu und hockte sich neben ihn. Ein fettleibiger Kerl mit wulstigen Lippen, Glatze und üppiger Brustbehaarung, die bei offener Jacke aus dem Unterhemd hervorquoll. "He, hau ab du Schwuchtel!" "Laß mich doch ein bischen sitzen", keckerte er mit Fistelstimme und begann, Georg zu befingern. Bruno saß neben mir und stieß mich belustigt an: "Gleich gibts Spaß", freute er sich flüsternd. Immer wieder schlug Schorsch die zudringlichen Finger Ludwigs weg. "Halt deine Pfoten bei dir, sonst bekommst du eins in die Fresse!" Dazwischen stampfte Obison sein "Pretty Woman" und die Fußspitzen aller tackten dazu den Rhythmus mit. Ludwig gab noch nicht auf. Zwar scheuchte Schorsch ihn wiederholt ans andere Bettende. Aber der dicke Glatzkopf war spitz genug, sich seinem Lustobjekt immer wieder raffiniert zu nähern. Jetzt griff er nach Georgs Kopf und betatschte ihn dort. "He, was soll das?" "Dein Ohr fühlen." "Arschloch! Befummel deine eigenen Ohren und laß mich in Ruhe." Ludwig ließ sich diesmal nicht abschütteln. "Nur dein Ohr fühlen", quiekte er lüstern und bohrte den Zeigefinger hinein. Georg war es satt und packte den Schwulen beim Genick, verpaßte ihm einige Ohrfeigen und warf ihn vom Bett. "Hau ab und geh dir einen wichsen, wenn du so scharf bist. Aber laß andere Leute gefälligst in Ruh." Jaulend zog Ludwig ab. Dann hörten wir ihn den Gang hinab schluchzen. "Mensch", staunte ich, "der hat doch wirklich nicht alle Tassen im Schrank." "Stimmt", brummte Georg, dem ich es ansah, daß ihm seine Grobheit nun leid tat. "Ludwig ist ein armes Schwein. Niemand will ihn haben, die Eltern nicht, die Geschwister nicht. Nun haust er sein Lebtag hier im Heim." "Davon würd ich bekloppt", seufzte ich. "Eben", nickte Schorsch. Und die andern beiden stimmten zu. "Aber du solltest Ludwig mal Klavier spielen hören", meinte Bruno, um auch etwas Positives von Ludwig sagen zu können. "Darin ist er wirklich ein Ass! Keine Feier hier im Heim, wo er nicht den musikalischen Teil bestreitet." "Ja und in der Stadthalle hat er auch schon ein Konzert gegeben", setzte Karl noch obendrauf. "Stadthalle?" Ich horchte auf. Mir kam da eine Erinnerung. Vater hatte Karten für ein Benefiz-Konzert. Junge Künstler der Region. Am Klavier saß ein gewisser Ludwig .... "Er ist doch nicht etwa Ludwig Leonhard?" "Genau der", bejate Bruno. Das verschlug mir die Sprache. Ich hatte Leonhard spielen hören. Das war wirklich genial. Selbst der alte Brockmann, Musiklehrer am Gymnasium, der uns mit Karten versorgt hatte, war restlos begeistert. "Und sowas verrottet in diesem Kasten?!", empörte ich mich. Alle drei schnauften hilflos: "Was will er machen? Solange niemand bereit ist, ihn zu beherbergen, bleibt er hier. Da kann er so genial spielen wie er will.", murmelte Bruno düster. "Und jede müde Mark, die sein Talent einspielt", ergänzte Karl, "kassiert natürlich der, der seine Unterbringung finanziert." Ich darauf: "Kein Wunder, daß er nicht mehr aus sich macht. Armer Hund. Und dazu ist er noch schwul." "Ach was", spuckte Karl. "Schwul wird hier jeder, der kaum einen Weiberrock erhaschen kann. Das ist nicht anders wie im Knast. Leute", er reckte seine Knochen hoch, "da bimmelts zum Abendbrot." Bruno stand ebenfalls auf. "Hab keinen Hunger", meinte Schorsch. "Geht ihr mal." Die Beiden klopften mir auf die Schulter und gingen. Wir tranken jeder noch was von der fürchterlichen Coca-Brühe und schwatzten über alles Mögliche. Ich erzählte ihm, was ich zur Zeit trieb und daß ich keinen Fatz Lust auf Blindenschrift hätte. Er nickte verständnisvoll. "Hab bis vor wenigen Jahren auch noch was sehen können", seufzte er. "Glaub ja nicht, daß ich große Lust aufs Punkte-Fummeln hatte. Jetzt zieh ich Bürsten und Besen. Junge, Das macht dir Schwielen auf die Griffel." Er reckte mir seine Pranken hin und ich befummelte beeindruckt die harten Fingerspitzen. Scheiße fürs Punktschriftlesen." Es klopfte. "Ah", lächelte Georg und rief: "Herein!" Ein dralles Mädchen rollte mehr als das es ging auf Schorsch zu, nahm ihn beim Kopf und schmatzte ihn ab. "Soll ich gehen?", erkundigte ich mich vorsichtig. "Unsinn", lachte er, tätschelte seiner Schönen die prallen Hinterbacken und ließ sie auf seinen Knien reiten. "Marga geniert sich nicht." Ich kannte die üppige Venus. Hatte sie schon öfters von der Straße aus beobachtet, wenn sie die Tische im Speisesaal deckte. Nun ja, ging es mir durch den Kopf, somit bestand für Georg nicht die Gefahr, schwul zu werden. Schorschs Hand unter ihrem Kleid gab mir Recht. Und ihren vorspringenden Lippen entwand sich ein Seufzer nach dem andern. Georg konnte beides, ihr eine Portion Petting verabreichen und sich mit mir unterhalten. Dann aber kam der Punkt, wo Marga mehr wollte. Ihr Kleid rutschte enthüllend hoch und ich erfand eine Entschuldigung, mich kurzerhand zu verabschieden.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/suchverl/erdwein/astra02.htm



Theodor Fontane:
Aus "Wanderungen durch die Mark Brandenburg - Zwischen Spreewald und Wendischer Spree - 3. Groß Rietz"

Eine halbe Stunde später verabschiedeten wir uns und fuhren aus dem unwirtlichen Pieskow, in dem nicht mal mehr ein Grabstein von besseren Zeiten redete (wenn es bessere Zeiten waren), in die sandig hügelige Feldmark hinaus.
»Hören Sie, Moll«, hob ich an, »das war 'ne forsche Frau.«
»Woll, forsch war sie. Man bloß zu sehr, un eigentlich wütig; un nahm ja gar keine Raison an.«
»Ja, hören Sie, das sagen Sie wohl; Sie sind ein behäbiger Mann. Aber solch armes Volk, das jeden Tag seine Not fühlt, das wird eben wütend und mucksch und starrt vor sich hin. Übrigens lassen wir's, und sagen Sie mir lieber, was ist das mit dem alten Emeritus? Der pieskowsche Lehrer konnte ja gar nicht von ihm los. Ist er denn noch bei Wege?«
»Freilich. Und wir kommen sogar an dem kleinen Hause vorbei, das er sich aus Feldstein hat aufmauern lassen. Und hat selber mitgeholfen. Und wenn ich es so liegen seh in Kapperfolium und Efeu, muß ich immer an Robinson und Freitag denken.«
»Und da wohnt er? Und ist schon sehr alt?«
»Sehr alt und weiß alles. Er hat noch den Kaiser Napoleon gesehn, als er aus Rußland kam, und als Studente war er mit in Griechenland und ist auch mal mit in die Luft geflogen. Aber sie haben ihn wieder 'rausgefischt. Und ich hab ihn öfter sagen hören:›Ein jeder hat so sein Schicksal, und wer Pastor in Pieskow werden soll, an den kann kein Türke 'ran. Und Feuer und Wasser auch nich.‹«
»Ei, das muß ja ein reizender alter Herr sein, und wohl sehr aufgeklärt und freisinnig. Oder vielleicht auch ein bißchen zu sehr. Ist es so was? He?«
Moll lächelte vor sich hin und schien ausdrücken zu wollen: auf eine so feine Frage laß ich mich nicht ein.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/fontane/mark/mar16103.htm



Gustav Freytag:
Aus "Soll und Haben"

«Haben die gelehrten Herren auch an solchen Spielen Freude?» fragte Lenore lächelnd.

«O ja», erwiderte Bernhard. «Ich habe auch die spitzen Blüten von Akelei und Rittersporn zu runden Kränzen ineinandergesteckt und in meinen Büchern gepreßt, dann trocknete ich Blätter und ganze Blumen, dann legte ich ein Herbarium an. Was uns als Erwachsene interessiert, das knüpft sich häufig an eine kleine Freude der Kinderzeit. Aus dem Kind, das zufällig einige bunte Kristalle in die Hand bekam, wird vielleicht ein Mineraloge, und schon mehr als ein berühmter Reisender ist durch Robinson Crusoe zu seinen Entdeckungen gekommen. Es ist immer eine Freude, zu erfahren, wie ein bedeutender Mann das gefunden hat, was seine Seele erfüllt.»
«Wir Frauen sehen das ganze Leben hindurch die Natur an wie die Kinder», sagte Lenore, «wir spielen mit den glänzenden Steinen und Blüten noch in unsern alten Tagen, gerade so wie die Mädchen vor uns. Und die Kunst ist so gefällig, uns Blumen und Steine nachzumachen, damit wir nur niemals das Spielzeug entbehren. - Wenn Sie so gut mit den Kinderspielen Bescheid wissen, dort ist etwas für Sie», sie wies auf einen großen Klettenstrauch am Wege. «Haben Sie sich jemals eine Mütze aus Kletten gemacht?»
«Nein», antwortete Bernhard mit bangen Ahnungen.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/freytag/sollhabn/sollh29a.htm



Johann Gottfried Herder:
Aus "Journal meiner Reise im Jahre 1769"

Weg also Grammatiken und Grammatiker. Mein Kind soll jede Todte Sprache lebendig, und jede lebendige so lernen, als wenn sie sich selbst erfände. Monta[i]gne, Shaftesburi lernten Griechisch lebendig: wie weit mehr haben sie ihren Plato und Plutarch gefühlt, als unsre Pedanten. Und wer seine Muttersprache so lebendig lernte, daß jedes Wort ihm so zur Zeit käme, als er die Sache sieht und den Gedanken hat: welch ein richtiger, philosophisch denkender Kopf! welch eine junge blühende Seele! So waren die, die sich ihre Sprache selbst erfinden musten, Hermes in der Wüste, und Robinson Crusoe. In solcher Wüste sollen unsre Kinder seyn! nichts als Kindisches zu ihnen reden! Der erste abstrakte unverstandne Begrif ist ihnen Gift: ist, wie eine Speise, die durchaus nicht verdaut werden kann, und also wenn die Natur sich ihrer nicht entledigt, schwächt und verdirbt. Hier eben so, und was würden wir, wenn die Natur nicht noch die Güte hätte, uns dessen durch Vergessenheit zu entledigen. Wie ändert sich hier Schule, Erziehung, Unterricht, Alles! Welche Methode, Sprache beizubringen! Welche Genauigkeit und Mühe, Lehrbücher zu schreiben und noch mehr über eine Wißenschaft zu lesen, und sie zu lehren! Lehrer! in Philosophie, Physik, Aesthetik, Moral, Theologie, Politik, Historie und Geographie kein Wort ohne Begrif, kein Begrif präoccupirt : so viel, als in der Zeit eine Menschliche Seele von selbst fassen kann, und das sind in der ersten Jugend, nichts als Begriffe durch Sinne.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/herder/jour1769/jour13.htm

 

Hugo von Hofmannsthal:
Aus "Defoe - Entwurf zu einem Film

Der Kleinkrämer Defoe lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, Tochter und Sohn, in London. Schlimme Zeiten für das Geschäft. Aber Defoe ist fleißig hinterher, seine Kunden zu bedienen: Wenn ein Stutzer Spitzenmanschetten brauchte oder ein Geistlicher oder ein Richter einen gefalteten Kragen oder eine hübsche Person Halbhandschuhe oder Strumpfbänder, so fanden sie, was sie suchten, in dem Laden. Und Daniel und seine Frau waren beide geschickt, für ein hübsches Bein einen hübschen Strumpf herauszufinden oder ein älteres Gesicht durch eine Haube mit Bändern jünger zu machen. Es kamen allerlei Leute in den Laden, auch Matrosen, auch steife Aldermen und wieder solche zweifelhafte und leichtfertige Personen, wie die hübsche Moll Flanders, deren Begleitung einmal eine alte Hexe war, einmal ein glatzköpfiger Edelmann und ein andermal ein junges Mannsbild, der leicht ein Taschendieb oder was ähnliches sein mochte. Aber alle bediente Daniel Defoe gut und mit allen redete er ein schnelles Wort, und sein mannhaftes Gesicht war immer munter, nur abends, da wurde sein Gesicht ernst und hart, wenn die Familie zu Bette gegangen und er über das Hauptbuch gebeugt saß und rechnete.
Spät in der Nacht kamen verschiedene Gestalten, kleine Bürger der Umgebung, und besprachen sich mit Daniel im Laden. Ernste Männer, Männer, die aussahen wie Soldaten, oder solche, die aussahen wie verkleidete Prediger von verschiedenen Sekten. Daniel führte die Protokolle und es galt die Parole: Hinweg mit König Jakob und seinen Ministern, für Wilhelm von Oranien. Es kamen Leute, die das Manuskript abholten und in eine heimliche Druckerei brachten: Das Pamphlet ging von Hand zu Hand, und Defoe beobachtete seine Wirkung. Er ging durch die Straßen zum Hafen, wo die Matrosen die ersten waren, die sich der Verschwörung anschlossen. Er sah auch eine furchtbare Szene am Hafenplatz, wo die königliche Flotte lag. Ein königlicher Offizier ließ einen Neger, von dem er annahm, daß er stehlen wolle, knebeln und peitschen. Sofort war Defoe zugegen, er ermahnte Mitverschworene und man befreite den Wilden, der dankbar wie ein Hund war. Auf die Anzeige des Offiziers kam man auf Defoes Spur, man umstellte das Haus, aber die Freunde Defoes warnten ihn: Männer mit schwarzen Larven vor dem Gesicht, mit Musketen und Degen unter dem Mantel kamen, und man bedenke: Jetzt gilt es für Wilhelm den Befreier! Daniel ging mit leisen Tritten die Treppe hinauf, warf einen Blick auf Susanna und seine Kinder, und dann nahm er seinen Mantel aus dem Schrank und verließ mit verlarvten Bewaffneten das stille Haus von Cripplegate. Vor ihnen her ging der Schatten des befreiten Negers.
Den verlassenen Laden muß für den Vater die Tochter bedienen. Es ist nicht viel zu tun und sie kann Strümpfe stricken. Aber ein junger Kavalier, Stephan Dyer, kommt öfters und wird in seinen Anträgen immer stürmischer. Das Mädchen widersetzt sich, die Mutter sieht den Kummer der Tochter, der Kavalier stellt diese vor die Wahl, daß er das Haus anzünden läßt, weil ihr Vater abtrünnig, oder daß sie seine Geliebte werde. Die Tochter besucht den Kavalier in seiner Wohnung. Daniels Sohn hat sich mit ihm auch angefreundet, die beiden pokulieren und würfeln zusammen und treiben viel Unfug. Die Mutter wird immer stiller, sitzt hinter dem Ladentisch und nickt dabei oft ein: sie sieht Daniel mitten in der Soldateska, brennende Dörfer hinterher, fliehende Menschen und verwundete Soldaten, die zwischen Dorfhecken und Feldrainen einsam daliegen und sterben. Es kommen Menschen, die Papiere vorweisen, fällige Wechsel und unbezahlte Rechnungen für Ware, die unverkauft daliegt. Und dann bringt die kleine Moll Flanders strahlend die Nachricht, daß der Prinz-Befreier der Stadt nahe. Unruhe in London, Flucht des ungeliebten Königs und Zurüstungen zum Empfang des neuen Königs. Die kleine Garde von Cripplegate, wo Daniels Laden steht, bleibt nicht zurück. Geschäftsleute und Dienstleute, Greise und Kinder und Krüppel, alles strömt nach einer der Hauptstraßen. Zwischen den Köpfen und Schultern der hurra schreienden Londoner sieht Susanna den Einzug: die Dudelsack spielenden Schotten, die Hellebardiere und Arkebusiere, die schwedischen Reiter in schwarzen Panzern, mit Bärenfellen umhangen, manche Verwundete darunter und mancher, der einen Truthahn oder einen Schinken auf die Hellebarde gepickt hat. Dann der eine oder andre von den edlen Lords, Baronen, Grafen, Bannerherrn: die Herzöge, vor denen die Wappenherolde reiten mit dem Schilde des Hauses Beaufort oder Crafton oder Richmond, Devonshire, Leeds. Dann in Karossen der Lord-Kanzler und Lord-Schatzmeister, dann gepuderte Diener, Herolde, Wappenträger; der Großfalkner mit dem Falken des Königs, dann die Meute des Königs, dann seine Reitpferde geführt; dann in Tragstühlen, die Mitra auf den Köpfen, die Erzbischöfe von York und Canterbury, und endlich König Wilhelm und Königin Anna zu Pferde, und an ihrer Seite reiten die Herzöge von Norfolk und Clarence. Und dann in unabsehbarem Zug, mit Blumen beworfen, die englischen Milizen und unter ihnen – jetzt sieht Susanna sein Gesicht und muß sich halbohnmächtig auf ihren Nachbarn lehnen – Daniel Defoe. Inzwischen ist die Tochter zu Hause und rafft die ganze Putzwäsche und ihre Kleider zusammen, die sie von einem Jungen hertragen läßt: sie folgt ihrem Geliebten, der mit ihrem Bruder auf sie in einer Hintergasse wartet. – Abends ist das große Bankett in Guildhall und Daniels Platz ist an einer der unabsehbaren Festtafeln und Susannas Platz auf einer Galerie, von wo sie ihn sieht, und er mit dem Becher ihr zuwinkt. Und dann sind sie allein in dem kleinen Haus in Cripplegate, und die Eltern entdecken, daß die Kinder entflohen sind.
Und nun hängt die Muskete und der lange Stoßdegen wieder an der Wand, und Daniel Defoe ist wieder ein kleiner Krämer in Cripplegate. Er steht allein, denn Susanna ist krank, die Aufregungen haben sie niedergeworfen. Das Warenlager sieht dürftig aus, und als Daniel Inventur macht, erkennt er: er wird bestohlen. So legt er sich die nächste Nacht in den Hinterhalt und da erkennt er die kleine Moll Flanders, die rasch die Sachen zusammenpackt und sie einem Mann mit geschwärztem Gesicht zuschiebt. Es ist Bob Singleton, ihr jetziger Zuhälter. Schon sind die auf der Straße, aber Daniel geht der Diebin nach und merkt sich die Gasse und das Haus des Hehlers. Am nächsten Tag zeigt er die Sache bei der Polizei an, und man geht mit ihm ins Haus der Diebin: Moll Flanders liegt noch im Bett, vor sich einen Papagei, die ganzen Spitzen und Stoffe vom Diebstahl der Nacht sind noch ausgebreitet. Sie muß den Beamten folgen. Er aber geht den Waren nach, die weiterverkauft wurden, und kommt in viele Häuser und lernt viele Dinge kennen.
Er sieht, wie Moll Flanders vom Gefängnis in den Schuldturm gebracht wird, sieht, wie seine Frau verlassen auf dem Krankenlager liegt und nach den Kindern verlangt. Und er schreibt im Namen der Armen ein Pamphlet, unterschrieben »Legion«, das er dem Haus der Gemeinen vorlegt. Und Daniel Defoe wird ein gefeierter Mann.
Da stirbt eines Tages Wilhelm III. und Königin Anna besteigt den Thron. Die Gegner kehren zurück, darunter auch der Kavalier Stephan Dyer mit seiner Geliebten. Defoe trifft beide auf der Straße und verlangt, daß seine Tochter nach Hause komme, aber der Kavalier verhöhnt ihn und schlägt ihm den Säbel aus der Hand. In einer Schenke trifft er den Sohn mit den zurückgekehrten Söldnern zechend. Er erkennt seinen Vater und macht sich über ihn lustig. Am nächsten Tag erhält Defoe vom Lord-Oberrichter eine Vorladung. Er muß seine Schrift verteidigen und wird verurteilt: drei Tage auf dem Pranger stehen, eine Geldstrafe zahlen, die den Wert seiner ganzen Habe übersteigt, und endlich zu Haft im Schuldturm. Da mußte Daniel sehen, wie ihn seine Füße nach Hause brachten, und wie er Susanna, der immer Kranken, selber das beibrachte, was ihm bevorstünde; aber er hatte eine gute Haltung dabei und er wußte gute, mannhafte Worte zu finden, und dann setzte er sich noch einmal allein in den kleinen Laden an das Schreibpult und dachte daran, was morgen und übermorgen und den dritten Tag sein würde, und sah den Pranger ganz scharf vor sich und sah auch, wie viele gerechte und tapfere Männer da hinaufgestiegen waren und ihren Leib und ihre Seele den Wutgrimassen des Pöbels entgegengehalten hatten. Da tauchte er die Feder ein und schrieb in schönen munteren gereimten Strophen eine »Hymne auf den Pranger«, ein mutiges und stolzes Gedicht. Er schrieb daran bis zum Morgen, dann weckte er seinen Knaben, schickte ihn mit den halbtrockenen Blättern in die Druckerei, und dann kamen die Konstabler, ihn abzuholen.
Den ersten Tag, die schwarze spitze Mütze auf dem Kopf, die Hände durch ein Brett gesteckt, unter ihm ein Zettel mit seinem Namen und »infamer Pamphletist«, wurde er ausgesetzt in einem vornehmen Stadtteil. Da waren seine vornehmen Feinde in der Überzahl, sie kamen zu Pferd und zu Fuß, und ihre Lakaien bewarfen ihn mit faulen Äpfeln und anderem Unrat, und vornehme Damen und geschminkte Schauspielerinnen unterhielten sich. Wenn aber Andersgesinnte vorbeikamen, wie Robert Harley und andere Whigs, so warfen sie einen ernsten Blick auf ihn und gingen wieder vorbei.
Den zweiten Tag war der Pranger an der Kreuzung zweier Geschäftsstraßen errichtet; da war ein großes Gewimmel von Neugierigen, Feinden, Freunden und Gleichgültigen, und wenn Zuträger und Aufhetzer, wie Stephan Dyer, die Menge heranwinkten, Steine und Scherben nach dem Ausgestellten zu werfen, so waren auch Andersgesinnte da, und es kam zu Streit und Prügeleien.
Den dritten Tag stand der Pranger in einem Viertel armer Leute, und wenn auch da vornehme Müßiggänger heranritten und ihre Lakaien und Mitläufer ihr Spiel versuchten, so waren doch die anderen in der Mehrheit. Es strömten ihrer immer mehr herbei, aus engen Gassen und von den Flußufern, und endlich war sie da, die »Legion«, mit deren Namen er seine Petition unterschrieben hatte, und sie stürmten den Pranger und trugen Daniel auf den Schultern und setzten ihn auf einen Karren und führten ihn im Triumph, die »Hymne auf den Pranger« singend, bis ans Tor von Newgate, und als sie an dem Palais des Bischofs von Ely vorbeikamen, drangen sie in den Garten ein und rissen alle Rosen ab, die da blühten, und bedeckten den Armensünderkarren mit Rosen, und so brachten sie ihn an die Gefängnistür.
In der Haft erkennt er Moll Flanders wieder und viele Gestalten, die er früher in ihrem Kreise gesehen. Man schmäht ihn und lacht über ihn. Und zwei Jahre bleibt er hier, bis die Königin Anna stirbt und die Whigpartei wieder Oberwasser erhält.
Kaum aus dem Gefängnis entlassen, muß er fliehen: Seine Freunde raten ihm dazu, denn er habe einen Feind, der bei allen Parteien gegen ihn arbeite. Defoe weiß, wer er ist. Er erfährt, daß seine Tochter im Siechenhaus untergebracht ist. Er geht nach Schottland und bleibt dann in Bristol. Hier im Hafen der Westindienfahrer erkennt er beim Scheine einer Schiffslaterne einen Mann in langes Ziegenfell gewickelt, mit einem spitzen Hut, einen Schirm von Fellen, einen Papagei auf der Schulter; er erkennt in dem Fremdling sein eigenes Gesicht wieder, sieht ihn später in einer Kneipe im Tabakrauch, und dieser erzählt ihm dann die Geschichte von Robinson Crusoe, die Defoe selbst zu erleben glaubt.
Darauf hat er keine Rast mehr; er reist heim, fortwährend schreibend, trifft seine Frau im Sterben, irrt fort von Haus, verkauft sein Manuskript und bleibt in einem kleinen Wirtshaus außerhalb des Ortes, wo er noch die Vision der Millionen Leser des Robinson erlebt und dann selbst stirbt.

Quelle:

 

Arno Holz:
Aus "Ignorabimus - 5. Akt"

Onkel Ludwig: (nachdrücklichst; befriedigt; auch diese Einzelheit ihm nicht schenkend) Genau so, wie damals ... als ich an meinem braunen, zerschnitzten Schularbeitspult ... noch den Robinson Crusoe las!
Dufroy: (ähnlich wie vorhin; nur jetzt bereits fast etwas ungeduldig) Alles ganz recht und schön ... aber dann war das doch nur ...
Onkel Ludwig: (eifrig; nickend; seinen Satz ihm, allerdings ganz anders gedreht, als dies natürlich sonst Dufroy selbst getan, fortsetzend und seine ganze, antiquiert-bunte Farbenskala, die ihm in diesem Zustand ganz besonders reichhaltig zur Verfügung steht, dabei funkeln und glitzern lassend) Zu dem ganzen ... libidinös üppigen ... lasziv unflätigen ... jeder Scham baren, Höllen-, Zauber- und Hexensabbat, der mich ... nachher und ... hernachwärts ... wie von rasenden, geierkralligen Erinnyen und Schlangenfurien verfolgt und gepeitscht ... bis hier heruntertrieb ... besagtermaßen, zuvörderst bloß und nur ... die zart präludierende ... eiapopeiande ... perfid betümpelnde Einwiegungsintroduktion und ... (burleske, wie empört abwehrende Geste nach der Kaminuhr, die in diesem Augenblick mit zwei Schlägen Halb anzeigt).

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/holz/ignorabi/ignora53.htm

 

Jean Paul:
Aus "Selberlebensbeschreibung - Dritte Vorlesung (Schwarzenbach an der Saale)"

... Zu gleicher Zeit legte er sich lesend auf die schöne Literatur der Deutschen; da aber in Schwarzenbach keine andere zu haben war als die romantische und von dieser nur die schlechten Romane aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: so trug er sich von diesen Quadern einen kleinen babylonischen Turm zusammen, ob er gleich jedesmal aus ihm nur einen Quader herausziehen konnte zum Lesen. Aber unter allen Geschichten auf Bücherbrettern - denn Schillers Armenier wiederholt später nur die halbe Wirkung- goß keine ein solches Freudenöl und Nektaröl durch alle Adern seines Wesens - bis sogar zu körperlichem Verzücken - als der alte Robinson Crusoe -; er weiß noch Stunde und Platz, wo die Entzückungen vorfielen - es war abends an dem Fenster gegen die Brücke zu; und nur später ein zweiter Roman, Veit Rosenstock von Otto, - vom Vater gelesen und verboten - wiederholte die Hälfte jener Begeisterung. Nur als Plagiar und Bücherdieb genoß er ihn aus der väterlichen Studierstube so lange bis der Vater wiederkam - einmal las er ihn unter einer Wochenpredigt des Vaters in einer unbesuchten Empor auf dem Bauche liegend. Jetzige Kinder beneid' ich wenig, welchen der erste Eindruck des kindlichen und kindischen Robinson entzogen und vergütet wird durch die neuern Umarbeiter des Mannes, welche die stille Insel in einen Hörsaal oder in ein abgedrucktes Schnepfental verwandeln und den schiffbrüchigen Robinson überall mit einem Lehrbuche in der Hand und eignen dictatis im Maule herumschicken, damit er jeden Winkel zu einer Winkelschule stifte, obgleich der Mann mit sich selber so viel zu tun hat, damit er sich nur notdürftig beim Leben erhält. ...

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/jeanpaul/selber/selber09.htm




Gotthold Ephraim Lessing:
Aus "Laookon"

Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die Tat zu erweisen. Alle diese Betrachtungen sind nicht ungegründet, und doch bleibet Philoktet eines von den Meisterstücken der Bühne. Denn ein Teil derselben trifft den Sophokles nicht eigentlich, und nur indem er sich über den andern Teil hinwegsetzet, hat er Schönheiten erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter, ohne dieses Beispiel, nie träumen würde. Folgende Anmerkungen werden es näher zeigen.
1. Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des körperlichen Schmerzes zu verstärken und zu erweitern gewußt! Er wählte eine Wunde - (denn auch die Umstände der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von seiner Wahl abgehangen hätten, insofern er nämlich die ganze Geschichte, eben dieser ihm vorteilhaften Umstände wegen, wählte) - er wählte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche Krankheit; weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen läßt, als von dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist. Die innere sympathetische Glut, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine Mutter in dem fatalen Brande ihrer schwesterlichen Wut aufopferte, würde daher weniger theatralisch sein, als eine Wunde. Und diese Wunde war ein göttliches Strafgericht. Ein mehr als natürliches Gift tobte unaufhörlich darin, und nur ein stärkerer Anfall von Schmerzen hatte seine gesetzte Zeit, nach welchem jedesmal der Unglückliche in einen betäubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine erschöpfte Natur erholen mußte, den nämlichen Weg des Leidens wieder antreten zu können. Chateaubrun läßt ihn bloß von dem vergifteten Pfeile eines Trojaners verwundet sein. Was kann man sich von einem so gewöhnlichen Zufalle Außerordentliches versprechen? Ihm war in den alten Kriegen ein jeder ausgesetzt; wie kam es, daß er nur bei dem Philoktet so schreckliche Folgen hatte? Ein natürliches Gift, das neun ganzer Jahre wirket, ohne zu töten, ist noch dazu weit unwahrscheinlicher, als alle das fabelhafte Wunderbare, womit es der Grieche ausgerüstet hat.
2. So groß und schrecklich er aber auch die körperlichen Schmerzen seines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, daß sie allein nicht hinreichend wären, einen merklichen Grad des Mitleids zu erregen. Er verband sie daher mit andern Übeln, die gleichfalls für sich betrachtet nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese Verbindung einen ebenso melancholischen Anstrich erhielten, als sie den körperlichen Schmerzen hinwiederum mitteilten. Diese Übel waren, völlige Beraubung der menschlichen Gesellschaft, Hunger und alle Unbequemlichkeiten des Lebens, welchem man unter einem rauhen Himmel in jener Beraubung ausgesetzet ist. Man denke sich einen Menschen in diesen Umständen, man gebe ihm aber Gesundheit, und Kräfte, und Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein Schicksal sonst gar nicht gleichgültig ist. Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir außer derselben genießen, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, daß es fremden Beistandes nach und nach kann entbehren lernen. Auf der andern Seite gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit, aber man denke ihn zugleich von gefälligen Freunden umgeben, die ihn an nichts Mangel leiden lassen, die sein Übel, soviel in ihren Kräften stehet, erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben, aber dieses Mitleid dauert nicht in die Länge, endlich zucken wir die Achsel und verweisen ihn zur Geduld. Nur wenn beide Fälle zusammenkommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig ist, wenn dem Kranken ebensowenig jemand anders hilft, als er sich selbst helfen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen zusammenschlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und Entsetzen. Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischet. Von dieser Art ist das Mitleid, welches wir für den Philoktet empfinden, und in dem Augenblicke am stärksten empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubt sehen, des einzigen, was ihm sein kümmerliches Leben erhalten mußte. - O des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen, kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat! Oder wann er es gehabt hat, der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles dieses aufzuopfern. Chateaubrun gibt dem Philoktet Gesellschaft. Er läßt eine Prinzessin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen. Und auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bei sich; ein Ding, von dem ich nicht weiß, ob es die Prinzessin oder der Dichter nötiger gebraucht hat. Das ganze vortreffliche Spiel mit dem Bogen hat er weggelassen. Dafür läßt er schöne Augen spielen. Freilich würden Pfeil und Bogen der französischen Heldenjugend sehr lustig vorgekommen sein. Nichts hingegen ist ernsthafter als der Zorn schöner Augen. Der Grieche martert uns mit der greulichen Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinen Bogen auf der wüsten Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen. Der Franzose weiß einen gewissern Weg zu unserm Herzen: er läßt uns fürchten, der Sohn des Achilles werde ohne seine Prinzessin abziehen müssen. Dieses hießen denn auch die Pariser Kunstrichter, über die Alten triumphieren, und einer schlug vor, das Chateaubrunsche Stück la difficulté vaincue zu benennen.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/herder/jour1769/jour13.htm

 

Karl Marx:
Aus "Das Elend der Philosophie" - Erstes Kapitel - Eine wissenschaftliche Entdeckung"

Aber Herr Proudhon hat es vorgezogen, im Kreise zu laufen; folgen wir ihm also auf seinen Umwegen, die uns stets wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückführen werden.
Um aus dem Zustand, wo jeder als Einsiedler für sich produziert, heraus und zum Austausch zu gelangen, "wende ich mich", sagt Herr Proudhon, "an meine Mitarbeiter in verschiedenen Tätigkeitszweigen". Ich habe also Mitarbeiter, die alle verschiedenen Beschäftigungen obliegen, ohne daß wir darum, ich und alle anderen - immer nach der Voraussetzung des Herrn Proudhon - aus der vereinsamten und wenig sozialen Stellung der Robinsons herausgetreten wären. Die Mitarbeiter und die verschiedenen Tätigkeitszweige, Arbeitsteilung und Austausch, den letztere in sich begreift, sind da, vom Himmel gefallen.
Fassen wir zusammen: Ich habe Bedürfnisse, die sich auf Arbeitsteilung und Austausch gründen. Indem Herr Proudhon diese Bedürfnisse voraussetzt, hat er auch bereits den Austausch und den Tauschwert vorausgesetzt, "dessen Entstehung er gerade mit größerer Sorgfalt als die übrigen Ökonomen zu kennzeichnen" sich vornimmt.
Herr Proudhon hätte ebensogut die Reihenfolge der Vorgänge umkehren können, ohne die Richtigkeit seiner Schlüsse zu beeinträchtigen. Um den Tauschwert zu erklären, bedarf es des Austausches. Um den Austausch zu erklären, bedarf es der Arbeitsteilung. Um die Arbeitsteilung zu erklären, bedarf es der Bedürfnisse, welche die Arbeitsteilung nötig machen. Um diese Bedürfnisse zu erklären, muß man sie einfach "voraussetzen", was keineswegs heißt sie leugnen, entgegen dem ersten Axiom im Prolog des Herrn Proudhon: "Gott voraussetzen, heißt ihn leugnen" (Prolog, S. I).
Wie verfährt nun Herr Proudhon mit der Teilung der Arbeit, die er als bekannt voraussetzt, um den Tauschwert zu erklären, der für ihn stets das Unbekannte bleibt?
"Ein Mensch" macht sich auf, "anderen Menschen, seinen Mitarbeitern in verschiedenen Tätigkeitszweigen vorzuschlagen", den Austausch herzustellen und einen Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert zu machen. Mit der Annahme dieser vorgeschlagenen Unterscheidung haben die Mitarbeiter Herrn Proudhon keine weitere "Sorgfalt" überlassen als die, von dieser Tatsache Akt zu nehmen, die "Entstehung der Idee des Wertes" in seiner Abhandlung über politische Ökonomie zu vermerken, sie "zu kennzeichnen ". Aber er soll uns noch immer die "Entstehung" dieses Vorschlages erklären, uns endlich einmal sagen, wie dieser einzelne Mensch, dieser Robinson, plötzlich auf den Einfall gekommen ist, "seinen Mitarbeitern" einen Vorschlag der bekannten Art zu machen, und wie diese Mitarbeiter ihn ohne irgendwelchen Einwand angenommen haben.
Herr Proudhon geht auf diese genealogischen Einzelnheiten nicht ein. Er gibt einfach der Tatsache des Austausches eine Art historischen Gepräges, indem er sie vorführt unter der Form eines Antrages, welchen ein Dritter gestellt, dahingehend, den Austausch einzuführen.
Hier haben wir eine kleine Probe von "der historischen und beschreibenden Methode" des Herrn Proudhon, der eine so souveräne Verachtung für die "historische und beschreibende Methode" von Adam Smith und Ricardo an den Tag legt.
Der Austausch hat seine eigene Geschichte. Er macht verschiedene Phasen durch.
...
Was hat uns nun der Austausch gleicher Arbeitsmengen gebracht? Überproduktion, Entwertung, Überarbeit, gefolgt von Stockung, endlich ökonomische Verhältnisse, wie wir sie in der gegenwärtigen Gesellschaft bestehen sehen, ohne die Arbeitskonkurrenz.
Nicht doch, wir täuschen uns; es bleibt noch ein Auskunftsmittel, welches die neue Gesellschaft retten kann, die Gesellschaft der Peter und Paul. Peter wird allein das Produkt der sechs Arbeitsstunden, die ihm bleiben, verzehren. Aber von dem Augenblick an, wo er nicht mehr auszutauschen braucht, weil er produziert hat, wird er nicht mehr zu produzieren brauchen, um auszutauschen, und die ganze Annahme einer auf Tausch und Arbeitsteilung basierten Gesellschaft fiele dahin. Man würde die Gleichheit des Tausches dadurch gerettet haben, daß der Tausch selbst aufhörte: Paul und Peter würden auf den Standpunkt Robinsons gelangen.
Wenn man also annimmt, daß alle Mitglieder der Gesellschaft selbständige Arbeiter sind, so ist ein Tausch gleicher Arbeitsstunden nur unter der Bedingung möglich, daß man von vornherein über die Stundenzahl übereinkommt, welche für die materielle Produktion notwendig ist. Aber eine solche Übereinkunft schließt den individuellen Tausch aus.
Wir kommen auch zur selben Folgerung, wenn wir als Ausgangspunkt nicht mehr die Verteilung der erzeugten Produkte, sondern den Akt der Produktion nehmen. In der Großindustrie steht es Peter nicht frei, seine Arbeitszeit selbst festzusetzen, denn die Arbeit Peters ist nichts ohne die Mitwirkung aller Peter und aller Paule, die in einer Werkstatt vereinigt sind. Daraus erklärt sich auch sehr wohl der hartnäckige Widerstand, den die englischen Fabrikanten der Zehnstundenbill entgegensetzten; sie wußten nur zu gut, daß eine Verminderung der Arbeit um zwei Stunden, einmal den Frauen und Kindern bewilligt, gleichermaßen eine Verminderung der Arbeitszeit für die [männlichen] Erwachsenen zur Folge haben müsse. Es liegt in der Natur der Großindustrie, daß die Arbeitszeit für alle gleich sein muß. Was heute durch das Kapital und die Konkurrenz der Arbeiter unter sich bewirkt wird, wird morgen, wenn man das Verhältnis von Arbeit und Kapital aufhebt, das Ergebnis einer Vereinbarung sein, die auf dem Verhältnis der Summe der Produktivkräfte zu der Summe der vorhandenen Bedürfnisse beruht.
Aber eine solche Vereinbarung ist die Verurteilung des individuellen Austausches, und somit sind wir wiederum bei unserem obigen Resultat angelangt.
Im Prinzip gibt es keinen Austausch von Produkten, sondern einen Austausch von Arbeiten, die zur Produktion zusammenwirken. Die Art, wie die Produktivkräfte ausgetauscht werden, ist für die Art des Austausches der Produkte maßgebend. Im allgemeinen entspricht die Art des Austausches der Produkte der Produktionsweise. Man ändere die letztere, und die Folge wird die Veränderung der ersteren sein. So sehen wir auch in der Geschichte der Gesellschaft die Art des Austausches der Produkte sich nach dem Modus ihrer Herstellung regeln. So entspricht auch der individuelle Austausch einer bestimmten Produktionsweise, welche selbst wieder dem Klassengegensatz entspricht; somit kein individueller Austausch ohne Klassengegensatz.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/marx/elend/me04_065.htm



Friedrich Nietzsche
Aus "Der Wanderer und sein Schatten"

54
Geschick zum Dienen. - Alle sogenannten praktischen Menschen haben ein Geschick zum Dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für andere oder für sich selber. Robinson besaß noch einen besseren Diener, als Freitag war: das war Crusoe.

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/nietzsch/wanderer/wande012.htm



Hermann Fürst von Pückler-Muskau:
Aus Briefe eines Verstorbenen

Den 16ten
Ich habe vortrefflich ausgeschlafen, und sitze nun im Gasthof am Meere, von der Reise ausruhend, und ergötze mich an den Schiff en, die auf allen Seiten die klare Flut durchziehen. Nach der Landseite zu ragt eine Burg, von schwarzem Marmor aufgebaut, aus den uralten Eichenkronen hervor. Mit diesem Schloß werde ich meine Ausflüge beginnen, und überhaupt hier, wo ich mich sehr gut aufgehoben sehe, mein Hauptquartier aufschlagen. Auch fand ich hier ganz unerwartet einen unterhaltenden Landsmann. Du kennst den geistreichen A..., der so mager ist, und doch so stattliche Waden besitzt, so elegant gekleidet und doch so sparsam, so gutmütig und doch so sarkastisch, so englisch und doch so deutsch erscheint. Kurz, A... frühstückte zum zweitenmal guten Appetits mit mir, und erzählte dabei die lustigsten Dinge. Er kam von S..., über welches er sich ohngefähr so vernehmen ließ:

Scherz und Ernst.
»Sie wissen, lieber Freund,« sagte er, »daß man in Wien jedem, der ein gebacknes Hendel essen, und NB. bezahlen kann, den Titel ›Euer Gnaden‹ erteilt – in S... nennt man dagegen jeden, der einen ganzen Rock trägt, in dubio, ›Herr ... Rat‹, oder noch besser, ›Herr Geheimer Rat‹, unbekümmert ob es ein wirklicher, oder nicht wirklicher (also bloß scheinbarer, phantasmagorischer) ein halber, d. h. ein pensionierter, ein ganzer, nämlich voll bezahlter, oder ein völlig unbefruchteter, eine tituläre Null sei. Sonderbar verschieden sind dabei die Attribute und die Funktionen dieses geheimnisvollen Rats-Wesens. Bald führt seinen Namen ein invalider Staatsmann in der Residenz, dem man aus Ehrfurcht für seine Altersschwäche, und zur Belohnung eines glücklich erlebten Jubiläums, eben den gelben Greifen umgehangen hat; oder ein nicht allzu tätiger, aber desto mehr von sich eingenommener Ober-Präsident in der Provinz, dem seine Verdienste bei der Durchreise eines fremden Souveräns, endlich zu Ehre und Orden verhelfen; hier ist es die rüstige Stütze der Finanzen, oder selbst der oder die rara avis, ein einflußreicher Mann nahe am Throne und dennoch ein bescheidener Mann voller Verdienst; dort aber schon wieder eine bloß vegetierende Exzellenz, die kein anderes Geschäft kennt als von Haus zu Haus gehend, veraltete Späße und Namenverdrehungen aufzutischen, die seit einem halben Jahrhundert das Privilegium haben, die crème de la bonne société in der Hauptstadt zu entzücken. Jetzt wird abermals ein genialer Mann daraus, der als Dichter und Mensch erfreut, und nie einen andern als den geraden Steg betritt – weiterhin repräsentiert es ein zwar weniger glänzendes, aber desto mehr umfassendes Genie, welches, obgleich der Themis eigen, auch ebensogut unter den Sternen, sowohl des Himmels als des Theaters, Bescheid weiß. Endlich verwandelt sich dieser Proteus gar in einen Cameralisten, berühmten Schafzüchter und Ökonomen, der seine Felder – und späterhin in einen Doktor, der die Kirchhöfe düngt; auch bei der unüberwindlichen Landwehr ist er zu finden, und Post1), wie Lotterie, ja Garderobe selbst, vermögen nicht ohne ihn zu bestehen. Der Hof-Philosoph, der Hof-Theologe, der Hof-Jakobiner, alle bieten sich am Ende die Hand als geheime Räte – sie sind es, waren es oder werden es sein – kurz, kein Land scheint in dieser Hinsicht mehr beraten, und zugleich geheimer! Denn so bescheiden sind diese zahllosen Räte – daß sie oft nichts geheimer halten, als ihr Talent.
Aber eine wahre Freude ist es dagegen, zu sehen, mit welcher unbefangenen, ja rührenden bonhomie sie sich selbst untereinander Titel geben und Ehre erzeigen, jeder dem andern sein Prädikat noch um eine Stufe höher schraubend, zur Dankbarkeit aber, wie sich von selbst versteht, dasselbe wiederum von ihm erwartend. Die verschiedenen Zusätze und Wendungen, die das arme Wort ›geboren‹, dabei erleiden muß, blieben gewiß jedem Fremden, der hier die deutsche Sprache erlernen wollte, ein mystisches Rätsel. Ohne mich in dieses Labyrinth weiter hinein zu begeben, erwähne ich bloß, daß ›geboren‹ allein, auch der Bettler auf der Straße nicht mehr sein will, und ›Edelgeboren‹ eine empfindliche Beleidigung für die unteren, so wie ›Wohlgeboren‹ für die obern, auch nicht-adlichen, Staatsbeamten zu werden anfängt. Ich für meine Person schrieb hier stets an meinen Schneider: ›Hochwohlgeborner Herr‹. Es war dies allerdings ein berühmter Mann, ein Nachkomme des bekannten Freundes Robinson Crusoës, der durch den kühnen und unnachahmlichen Schnitt seiner Uniformen eine welthistorische Wichtigkeit erlangt hat. Er war also auf alle Weise wenigstens des Verdienstadels würdig. [Ich kenne übrigens Züge von diesem Künstler, die manchem industriellen Edelmann unserer Zeit zur Ehre gereichen wurden, z. B. der, daß er seine Rechnungen nur alle fünf Jahre einschickt, und der großmütigste Gläubiger aller Isolanis der Armee ist. Avis aux lecteurs!]
Um in solcher willkürlichen Titelerteilung und Empfangung nicht geniert zu sein, ist es hier auch so vorteilhaft eingerichtet, daß bei der größten Rangsucht doch eine wirkliche bindende Rang-Ordnung gar nicht existiert, weder bei Hofe, noch durch die Geburt bestimmt, oder durch gesetzwerdende Meinung und Gewohnheit in der Nation begründet. Zuweilen ist es Geburt, öfter das Amt, bald Verdienst, bald Gunst, bald auch nur unwiderstehliche Impertinenz, welche den Vorrang gewährt, wie es Zufall und Umstände fügen. Dies gibt nun zu besondern Anomalien Anlaß, die einem alten Edelmanne, wie ich bin, einen Baron von Tunderdendronk, qui ne saurait compter le nombre de ses ânes, wie jener p... General sagte – gar nicht in den Kopf wollen. Klagen, Sorgen und Not haben deshalb auch kein Ende in der Gesellschaft; nur eine gewisse lustige und vortreffliche alte Dame weiß einzig und allein, fast überall, und bei jeder Gelegenheit, den ersten Rang zu behaupten – weil sie mit vielem Geist viele körperliche Kräfte und persönliche Tapferkeit verbindet, und durch diese vereinten Eigenschaften bald mit Witz, bald mit göttlicher Grobheit, bald auch, wenn nichts anders helfen will, mit einem derben Fauststoß, bei Hof- und andern Festen sich als die erste geriert, und die Erste bleibt. Ich weiß unter andern von guter Hand, daß die Gräfin Kakerlack bei einem der Höfe (denn es gibt deren mehrere hier) sich durch eine Hof-Kabale zurückgesetzt fühlte, und auf den Rat ihres Freundes, des Starostes von Pückling, sich direkt an den stets gerechten und billigen Regenten wandte, und offiziell um die Bestimmung ihres Ranges bat. Man erteilte ihr hierauf auch diesen, unmittelbar nach der Fürstin Bona, welche (hier einmal der Verdienste ihres seligen Mannes wegen) den ersten inne hat – und der Großwürdenträger, Fürst Weise, brachte ihr selbst diese Ordre. ›Aber‹, sagte er, ›liebste Gräfin, der Baronin Stolz müssen sie doch den Rang lassen, denn was wollen Sie mit Ihrer schlanken Taille gegen die ausrichten? Ein einziger Ellenbogenstoß, und Sie sind lahm auf ewig! Also lassen Sie die immer vorgehn, denn Sie wissen, die Polizei selbst fürchtet sich vor der, seit der famosen Einladung, die sie vor einigen Jahren an dieselbe ergehen ließ.‹

http://gutenberg.spiegel.de/pueckler/verstorb/vers25c.htm



Wilhelm Raabe:
Aus "Alte Neser (Fünftes Kapitel)"

... Von dem gelehrten Herrn Pastor, den der Herr Graf gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft meiner Mutter rühmte, habe ich wenig zu sagen. Der Herr Graf verstand es wohl nicht besser, aber die Gelehrtheit des guten Mannes war nicht weit her und sein Einfluß auf uns unbedeutend.
Hierüber aber erhält Ewald am besten das Wort. Er nahm mich seinerzeit beiseite, das heißt, indem er mich am Kragen faßte und, mich auf offener Dorfgasse abschüttelnd, bemerkte:
»Tust du dumme Stadtpflanze noch ein einzig Mal da (dieses war von einer Schulterbewegung dem Pfarrhause zu begleitet), als wüßtest du mehr als ich von all den Dummheiten, so paß auf! Wie die Engel im Himmel singen, das weißt du wohl noch nicht? Hör mal, so!«
Nun ist es durchaus nicht angenehm, seiner Wissenschaften wegen an den Ohren auf- und von den Füßen gehoben zu werden.
»Hörst du sie?! Nicht wahr, sie singen wirklich wie die Engel? Und nun tu's nicht wieder und heb den Finger in die Höhe, wenn ich feststecke! Frag nur Irene, ob die alten Ritter das getan haben. In der Dorfschule beim Kantor tun sie es alle, und da tue ich es auch und du kannst es auch tun; aber bei dem dummen Lateinischen und dem Herrn Pastor, da probiere es mir nur noch ein einziges Mal und du sollst sehen, was du erlebst, und wenn du mir auch hundertmal deinen Robinson und deine Campes Eroberung von Mexiko geliehen hast.«
»Was soll ich aber denn tun, wenn ich was weiß?« heulte ich, während Irene lachte und Eva ihren Bruder am Hosenbund nach rückwärts zog.
»Die dumme Schnauze halten! Der Alte sagt es schon ganz von selber her. Ich gehe doch schon lange genug bei ihm in die Privatstunde und muß es wissen, was er alles weiß! O, der weiß für uns beide noch lange genug!«

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/raabe/altenest/alte105.htm

Aus "Die Chronik der Sperlingsgasse"

Am 28. Februar.
Es ist gar kein übler Monat, dieser Februar, man muß ihn nur zu nehmen wissen! - Da ist erstlich die ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden Tage. Wie habe ich mir einst, vor langen Jahren, den Kopf über ihr Verbleiben zerbrochen! Jeder andere Monat paßte aufs Haar mit Einunddreißig auf den Knöchel der Hand, mit Dreißig in das Grübchen, und nur dieser eine Februar - 's war zu merkwürdig! - Das ist ein Stück aus der formellen Seite der Vorzüge dieses Monats, jetzt wollen wir aber auch die inhaltvolle in Betrachtung ziehen. Was ist an diesem Regen auszusetzen? Tut er nicht sein möglichstes, die Pflicht eines braven Regens zu erfüllen? Macht er nicht naß, was das Zeug halten will und mehr? Der alte Marquart in seinem Keller ist freilich übel dran, seine Barrikaden und Dämme, die er brummend errichtet, werden weggeschwemmt, seine Treppe verwandelt sich in einen Niagarafall. Alles, was Loch heißt, nimmt der Regen von Gottes Gnaden in Besitz. Immer ist er da; seine Ausdauer grenzt fast an Hartnäckigkeit! Man sollte meinen, nachts würde er sich doch wohl etwas Ruhe gönnen. Bewahre! Da pladdert und plätschert er erst recht. Da wäscht er Nachtschwärmer von außen, nachdem sie sich von innen gewaschen haben; da wäscht er Doktoren und Hebammen auf ihren Berufswegen; da wäscht er Kutscher und Pferde, Herren und Damen - maskiert und unmaskiert; da wäscht er Katzen auf den Dächern und Ratten in den Rinnsteinen; da wäscht er Nachtwächter und Schildwachen selbst in ihrem Schilderhaus. Alles, was er erreichen kann, wäscht er! Kurz: »Bei Tag und Nacht allgemeiner Scheuertag, und Hausmütterchen Natur so unliebenswürdig, wie nur eine Hausfrau um drei Uhr nachmittags an einem Sonnabend sein kann.« Das ist das Bulletin des Februars, den man einst mensis purgatorius nannte. - Jetzt finde ich auch einen Vergleich für das Aussehen der großen Stadt. Lange genug hab ich mich besonnen, keiner schien passend. Nun aber hab ich's! Aufs Haar gleicht sie einem unglücklichen Hausvater, den die Fluten des sonnabendlichen Scheuerns auf einen Stuhl am kalten Ofen geschwemmt haben, wo er sitzt - ein neuer Robinson Krusoe - mit Kind, Hund, Katze und Dompfaffenbauer, die Beine auf einem hohen Schemel stehend und die Schlafrockenden herabhängend in die Wogen.
Brr! - Das ist mal wieder ein Wetter, um in alten Mappen zu wühlen, und ich wühle auch darin schon seit geraumer Zeit! Da muß ein Brief sein, den ich trotz aller Mühe nicht finden kann und der doch eigentlich schon früher der Chronik hätte eingelegt werden sollen. Briefe mit späterm Datum von derselben Hand finde ich genug; sie berichten von Kindtaufen, und einer auch von dem Hinscheiden eines ehrwürdigen Pudels, »Rezensent« genannt. Ich möchte aber gern ein älteres Schreiben haben, welches noch nicht von Kindtaufen erzählt! Gottlob, hier ist's! Die Chronik hätte es, wie gesagt, viel früher aufnehmen müssen, aber was tut's? Je älter solche Briefe werden, je älter ihr Schreiber selbst geworden ist, desto frischer klingen sie! ...
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/raabe/sperling/sperl16.htm

Aus "Die Akten des Vogelsangs"

... Die weite See, wo Robinson Krusoe seine Wunderinsel fand und wir, Velten und ich, so gern eben eine solche gesucht hätten, - das große Meer, über welches Sindbad der Seefahrer schiffte und seine tausendundein Abenteuer erlebte, über welches Whittington (dreimal Lord-Mayor von London) seine Katze verhandelte und vom Negerkönig drei Säcke voll Goldstaub für das brave Tier zurückempfing: das war es, was natürlich zuerst unsere Knabenphantasie erregte.
...

Quelle:http://gutenberg.spiegel.de/raabe/akten/akten03.htm

Aus "Das Odfeld"

Natürlich die Klassiker in abgegriffenen Schulausgaben, meistens aus den eigenen Schuljahren des Magisters. Wenige neuere und neueste Schriften, und auch die meistens nur, wie sie der Zufall in der Zelle des Bruders Philemon zusammengeschichtet hat: Gundlings Otia neben Petitus De Amazonibus dissertatio; Jöchers kompendiöses Gelehrtenlexikon neben des Weltberühmten Engelländers Robinson Crusoe Leben und gantz ungemeinen Begebenheiten insonderheit da er 28 Jahre lang auf einer unbewohnten Insul auf der Amerikanischen Küste gelebet hat. 1728; Professor Gottscheds Kritische Dichtkunst und Bearbeitung von Addisons Cato und daneben, und daneben - vielleicht pio furto seit Emigrierung der Schule von Amelungsborn nach Holzminden im Besitz des Magisters Buchius - ein geschrieben Breviarium mit sauber ausgemalten Kupfern (sic) Johannis Masconis, vordem, Anno Dom. 1363 bis 1366 am hiesigen Orte Abbas.
»Soll ein celebrirter Maler und feiner Amateur in denen schönen Künsten zu seiner Zeit gewesen sein«, meint der Magister auf einem in der Handschrift liegenden Zettel. »Wird von denen heutigen Kunstkennern weniger ästimiret.«
Es kamen, selbst als noch die Schule zu Amelungsborn in Blüte stand, die neuesten Erzeugnisse der Literatur weder vollständig noch rasch in die gelehrte Weser-Waldwildnis. Jetzt wartet der Magister ganz vergeblich selbst auf zufällige Nachrichten aus der Gelehrtenrepublik da draußen. Es ist eben Krieg, und selbst Dinte und Gänsefedern sind rar geworden in Amelungsborn.
Quelle:http://gutenberg.spiegel.de/raabe/odfeld/odfld05.htm

 

Friedrich Spielhagen
Aus "Problematische Naturen"
(Fünfzehntes Kapitel)

Sophie zuckte die Achseln:
»Nichts wird so warm gegessen, wie es gekocht ist, meine Herren. Das muß ich als zukünftige Hausfrau wissen.«
»Wir heiraten nämlich heut über vier Wochen, Bemperlein«, sagte Franz.
»Das heißt, wenn Ihr Frack, den Sie schon, seitdem Sie in Sundin sind, machen lassen wollen, bis dahin fertig wird, Bemperlein; sonst unter keiner Bedingung«, sagte Sophie.
»Der Frack wird fertig! Der Frack wird fertig!« rief Herr Bemperlein, »und sollte ich ihn selber zurechtschneidern, nähen und bügeln.«
»Das würde ein schönes Kleidungsstück werden, Bemperchen.«
»Vielleicht nicht so schlecht, wie sie glauben. Es wäre wenigstens nicht der erste Frack, den ich mir höchst eigenhändig fertigte.«
»Unmöglich, Bemperlein!« rief Franz voll Erstaunen.
»Was ich Ihnen sage. Es ist nun freilich schon ein wenig lange her – fünfzehn Jahre etwa – und ich war dazumal, in meiner Robinson-Crusoe-Periode, erfinderischer und fleißiger als jetzt; aber für unmöglich halte ich die Sache auch noch heute nicht.«
»Aber was zwang Sie denn, so wunderliche Experimente anzustellen?«
»Die Erfinderin aller Künste, die Not. Sie wissen, Fräulein Sophie, daß ich zu denjenigen Kindern Gottes gehöre – oder vielmehr gehörte, denn jetzt bin ich in meiner Eigenschaft als wohlsituierter Sundiner Privatgelehrter, der mehr Stunden hat, als er geben kann, in eine andere Rangklasse versetzt –, denen das Himmelreich versprochen ist, weil sie auf Erden nichts ihr eignen nennen. Infolgedessen war ich, als ich damals aus den elysäischen Gefilden meines Heimatdorfes nach Grünwald kam, gezwungen, eine Art von Zikadendasein zu führen und alle unnötigen Ausgaben zu vermeiden. So verfiel ich denn unter anderem auf den sehr naheliegenden Gedanken, ob es nicht möglich sein sollte, sich auch in unserem tinteklecksenden Säkulum die nötigen Kleidungsstücke selbst zu fertigen, wie weiland Eumäus, der göttliche Sauhirt. Gedacht, getan. Ich hatte eine vertraute Freundschaft mit einem Knaben geschlossen – er hieß Christian Süßmilch, der Sohn von dem alten Schneidermeister Süßmilch in der Langenstraße –, der durchaus Schneider werden sollte und durchaus ein Gelehrter werden wollte. Wir machten einen Konvenant, daß ich, wenn Papa Süßmilchs Stentorstimme Feierabend verkündigt hatte, den Zumpt und den Rost mit ihm traktierte, wogegen er mich lehren sollte, wie man die Nadel und das Bügeleisen führt. Unsere Studien wurden mit ebensoviel Eifer wie Heimlichkeit betrieben, denn ich fürchtete nicht ohne alle Ursache den Spott meiner Mitschüler und er die sichertreffende Elle seines Vaters und Lehrherrn. Oh, es waren köstliche Stunden, die wir so zusammen verlebten, Stunden, die er und ich nie vergessen werden. Ich sehe uns noch beim traulichen Schein einer Tranlampe auf meinem kleinen Dachstübchen zusammensitzen – an einem Herbstabend wie heute, wenn der Regen auf die Ziegel dicht über unseren Köpfen tappte und die Rinne gurgelte und die Eulen und Dohlen auf dem Turm der nahen Nikolaikirche krächzten und schrien. Wir aber froren nicht, trotzdem kein Feuer in dem kleinen Kanonenofen brannte, denn die heilige Flamme der Freundschaft durchströmte unsere Adern mit sanfter Glut, und ich nähte, daß der Faden rauchte, und er lernte in seiner Grammatik, daß ihm der Kopf dampfte, und wenn ich dann die Naht nach allen Regeln der Kunst genäht hatte und er sein ›tüpto, tüpteis, tüptei‹ ohne Anstoß aufsagen konnte, so sanken wir uns gerührt in die Arme und beneideten keinen König auf dem Thron um seine Herrlichkeit.«
Herr Bemperlein schwieg und blickte gerührt in sein Glas.
...

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/spielhag/naturen/natur215.htm




Theodor Storm:
Aus "Eine Halligfahrt"

Die Aufmerksamkeit unsrer »Maman« war durch eine Pumpe erregt worden, welche unweit des Einganges in dem kleinen Teiche stand; und während der alte Herr, unter lebhaften Schlägen mit dem Schwengel, ihr die Speisung und Bedeutung dieses Süßwasserbehälters der Insel zu erklären begann, gingen Susanne und ich in das trauliche Gartennest hinab, wo der Sonnenschein wie eingefangen auf dem grünen Laube schlief. Wir schritten langsam der weißen Katze nach und verschwanden gleich ihr unter dem dichten Laub der Apfelbäume, das fast Susannes goldklares Haar berührte; um uns her schwamm der Duft von Federnelken und Rosen, die oben zwischen den Gemüsebeeten blühten. Unmerklich, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, waren wir in jenen träumerischen Zustand geraten, von dem in der Sommerstille, inmitten der webenden Natur, so leicht ein junges Paar beschlichen wird: sie schweigen, und sie meinen fast zu reden; aber es ist nur das Getön des unsichtbar in Laub und Luft verbreiteten Lebens, nur das Hauchen der Sommerwinde, die den Staub der Blüten zueinander tragen. Ich glaube, wir saßen auf einer kleinen Holzbank und blickten – wer weiß, wie lange schon! – durch die Lücken des Zauns auf das unten schimmernde Wasser, als plötzlich die akzentuierte Stimme der Geheimrätin mich auf die Oberfläche des Lebens zurückrief; und gleich darauf erschien auch der alte Herr und trieb uns mit munteren Worten zum Kaffee in das Haus.
Aber ich stahl mich bald davon, um mir nach meiner Weise allein und ungestört die verschiedenen Räume des großen, ganz im Viereck gebauten Hauses anzusehen.
Eine Weile stand ich in einer Art von Zimmerwerkstatt und plauderte mit dem Sohne des Hauses, der, gleich Robinson, alle Hantierungen vom Robbenjäger bis zum Zimmermann in sich vereinigte und augenblicklich in letzter Eigenschaft an den Blöcken eines Segelbootes arbeitete, das von einer Nachbarinsel aus bei ihm bestellt war.
Von hier aus gelangte ich in einen langen, ziemlich düstern Stall. Er war leer, da das Vieh draußen auf der Hallig weidete; nur die weiße Katze saß jetzt hier auf der Krippe, und einige Hühner liefen gackernd durch das Mauerloch aus und ein; an den Wänden sah ich hie und da ein Seehundsfell zum Trocknen angenagelt.
Zum Ende des Stalles, im rechten Winkel daran stoßend, noch stiller und noch mehr in Dämmerung, lag die Scheune; und dort in ihrer Mitte stand das neue Boot, noch duftend von dem Harz des Waldes, von keiner Welle noch berührt. Wie selbstverständlich stieg ich ein; ich setzte mich auf die Ruderbank und dachte an den Vetter, weshalb er denn vorhin sein Geigenspiel vor uns verleugnet habe.
Es war völlig einsam hier. Die kleinen, überdies mit Spinngewebe überzogenen Fenster lagen so hoch, daß sie keinen Ausblick zuließen. Vom Hause her vernahm ich keinen Laut; aber draußen um die Mauern, obgleich gegen Mittag der Wind sich fast gänzlich gelegt hatte, ertönte eine Art von Luftmusik, die mich die großen Register ahnen ließ, mit denen hier um Allerheiligen der Sturm sein Weltmeerkonzert in Szene zu setzen pflegt. Nach einer Weile mischten sich leichte Schritte, die durch den Stall daherkamen, in dieses Tönen der Luft, und als ich aufblickte, stand Susanne in der Tür, ihr Hütchen am Bande hin und her schwenkend.
...

 

Heinrich Zschokke:
Aus "Die Prinzessin von Wolfenbüttel"

Paris, den 3. Januar 1716.
Es kann sein, lieber Bellisle, wie Sie sagen, daß mein letzter Brief noch einen sehr fieberhaften Puls verrät! . . . Ihre gute Laune ist unüberwindlich! Ihre Einfälle beleben mich wieder. Ich will alles versuchen, mich in meine ehemalige Heiterkeit zurückzukünsteln: ich will mich mit Gewalt in Täuschungen werfen, und den Rest meines Lebens, wie in einem Rausche, verbringen; denn wahrlich, dem Nüchternen ist dies armselige Dasein nicht wert, genossen zu werden! Das fühlen alle Menschen, sobald sie dem verworrenen, nebelhaften Kindesalter entwachsen sind, und deutlicher zu sehen und zu denken beginnen. Woher entspränge auch sonst wohl der Hang der Nationen, durch Wein, durch Biere, gebrannte Wasser, Opiate und betäubenden Tabak ihre Sinne auf längere und kürzere Zeit zu verwirren? Es muß doch eine sehr allgemein empfundene Wollust sein, die Welt, diese langweilige Prosa, nicht zu genießen, wie sie uns aufgetischt ward.
Europa gefällt mir nicht; ich suche mir einen neuen Weltteil zur Wohnung; auch wäre es mir gleichgültig, wenn ich der Robinson eines unbewohnten Eilandes würde. Was ist am Ende daran gelegen, wohin mein Staub fällt! Ich lebe; und es wird eine Zeit kommen, wo ich nicht mehr bin.
Sie werden sagen: Ändere Dich, aber nicht den Weltteil! Der alte Gemeinspruch hat an mir sein Recht verloren. Ich bin frei; warum soll ich bei Schlafenden wohnen, wenn ich wachen . . . bei läppischen Buben, wenn ich ernst sein will? Mich ekelt Europa mit seiner halben Kultur an. Ich will unter Weisen, oder einfältigen Kindern der Natur leben; beide sind gleich liebenswürdig, weil sie einfach, wahrhaft, ungeziert einhergehen. Die Völker unseres Weltteils befinden sich noch in den Knabenschuhen, sind linkisch, widerspruchsvoll und reich an unreifer Schulweisheit, wie Knaben. Jeder scheint. Niemand ist.
Mein Handel mit dem Schiffskapitän de Blaizot ist im Reinen. Ich verlasse Europa und gehe nach Louisiana. An den schönen Ufern des Mississippi will ich meine Wohnung bauen, und das Oberhaupt einer kleinen Kolonie werden, die mich zu ihrem Führer gewählt hat. Es sind sechs Handwerksleute, welche auf eigene Kosten nach Nordamerika gehen wollen; diese treten in meine Dienste. Schon habe ich in Bordeaux ansehnliche Bestellungen zum Ankauf von allerlei Samen, Vieh, Acker- und Hausgerät gemacht. Künftigen Monat reise ich von Paris ab, und im März schiffen wir uns ein.
Glauben Sie nicht, daß ich, wie tausend Andere, dahin eile, um Schätze von edlen Metallen zu sammeln! Mögen sie für mich noch manches Jahrtausend in Frieden ruhen; ich werde ihrethalben keines Indianers Ruhe stören. Keine Leidenschaft, außer derjenigen, welche Religionseifer erzeugt, ist so fürchterlich – Alles verheerend, ist grausamer in ihren Mitteln, nichtiger in ihren Zwecken, als der Durst nach Gold. Millionen Menschen wurden seine Schlachtopfer; Millionen zogen über entlegene Meere und verdarben elend in den Wüsten fremder Weltteile unter ihren Hoffnungen, Die Unglücklichen! Und wenn sie nun Haufen Goldes zusammengescharrt und nach Europa zurückgeschleppt hätten, wären sie froher, glücklicher, reifer gewesen? Konnten sie mehr, als ihren Hunger stillen, sich gegen Frost und Hitze in Kleider hüllen und sanft schlafen? . . . Was ist eine Tonne Goldes neben einem siechen Körper? Was ist ein ganzes Goldland neben einem krankenden Herzen?
Nein, darum verlasse ich den vaterländischen Boden nicht! Ich sehne mich nach einem schönern Leben. Ich will der Stifter einer glücklichen Gesellschaft werden, welche durch Arbeitsamkeit blühend, durch Unterricht weise, durch bürgerliche und religiöse Freiheit kraftvoll und beneidenswürdig sein soll. Ich werde mich tief in das Innere des Landes hineinbegeben, fern von den Pflanzstätten habsüchtiger Europäer und von den beunruhigten Meeresküsten. Ich werde Verträge mit meinen indianischen Nachbarn schließen, und unsere einfachen Bündnisse sollen heiliger sein, als die sogenannten ewigen Frieden arglistiger Politik der Europäer.

http://gutenberg.spiegel.de/zschokke/wolfenbt/wolfenb3.htm

 

Ich lebte mit Lederstrumpf und Sigismund Rüstig kameradschaftlich, einhellig und von ihrem Wesen sattgesäuert und zufriedengeläutert, mit Gestalten eines seltsamen Bandes,……

Ernst Barlach, Ein selbsterzähltes Leben, Güstrower Fragmente, Seite 36 marixverlag 2009

 

Besucher

Heute 1

Gestern 15

Woche 85

Monat 180

Insgesamt 88.279

Kontakt

Im Museum Weißenfels

Mike Sachse

mike.sachse@museum-weissenfels.de

Telefon: 03443-302552

Postadresse:

Museum Weißenfels, Zeitzer Straße 4, 06667 Weißenfels